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Wie Betriebe von Inklusion profitieren

By 7th Dezember 2023 No Comments

Frankfurt, 05. Dezember 2023

Ein Artikel der FAZ von Patricia Andreae

Verbände fordern mehr Beschäftigung von Schwerbehinderten in Betrieben. Manche Arbeitgeber sehen dabei auch Schwierigkeiten – doch bietet die Inklusion auch große Vorteile.

„Das wäre doch etwas, wenn es mir gelingt, in meinem Alter noch eine Anstellung im ersten Arbeitsmarkt zu bekommen, das schaffen Leute ohne Behinderung oft nicht.“ Mit diesem Satz hat Patrick seinen Chef Carsten Menge endgültig davon überzeugt, dass es eine gute Entscheidung war, bei der Frankfurter Agentur Keko einen inklusiven Arbeitsplatz zu schaffen. Denn die Stelle, die Patrick, der nur beim Vornamen genannt werden möchte, innehat, gab es vorher nicht. Die Aufgaben, die er übernommen hat, allerdings schon.

In der Agentur soll der 53 Jahre alte Patrick unter anderem Dienst am Empfang machen, Post sortieren und austeilen oder Konferenzräume vorbereiten. Die Tätigkeiten waren zuvor auf mehrere Mitarbeiter verteilt, während die Empfangskraft andere Zusatzaufgaben hatte. Als der Posten am Empfang neu besetzt werden musste, sah Carsten Menge die Chance für ein inklusives Projekt in der Agentur, die zu ihren Kunden das Behindertenwerk Main-Kinzig zählt. Deren Werkstätte in Hanau ist Patricks eigentlicher Arbeitgeber. Bei Keko arbeitet er im Rahmen eines Betriebsintegrierten Beschäftigungsplatzes (BIB). Die als gemeinnützige GmbH geführte Einrichtung beschäftigt nämlich nicht nur selbst Menschen mit Behinderung, sondern vermittelt sie, ähnlich wie eine Zeitarbeitsfirma, auch an Unternehmen. In dem BIB-Programm bleibt der Mitarbeiter formal bei der Werkstätte beschäftigt, sein Arbeitsplatz wird ausgelagert.

Beschäftigungsschere zwischen freier Wirtschaft und öffentlichem Arbeitgeber

Das ist ein Weg, der es Unternehmen leicht machen kann, Menschen mit Behinderung zu beschäftigen. Denn so stehen bei Schwierigkeiten Betreuer zur Verfügung, zudem können die Arbeitnehmer in ihre Werkstatt zurückkehren, wenn es im Unternehmen nicht klappt. Auch das hat Keko-Geschäftsführer Carsten Menge schon erlebt. Die erste Kandidatin, die er über das Programm eingestellt hatte, kam mit dem Kontakt zu vielen Menschen nicht klar. Für Menge war das aber kein Grund, es nicht noch einmal zu versuchen.

Erfolgreiches Team: Agenturchef Carsten Menge (links) setzt auf Inklusion – und auf die Unterstützung seines Empfangsmitarbeiters Patrick. Der arbeitet mit seinen 53 Jahren jetzt glücklich am Empfang. (Bild: Aaron Leithäuser)

Ähnlich ticken nach Ansicht der Behindertenbeauftragten des Landes Hessen, Rika Esser, noch zu wenige Unternehmen. Die Gewerkschaft Verdi kritisiert, die freie Wirtschaft zahle lieber eine Ausgleichsabgabe, als Menschen mit Behinderung zu beschäftigen. Im Jahr 2021 sind laut Verdi Frankfurt 39 Prozent der Pflichtarbeitsplätze in der freien Wirtschaft nicht besetzt worden. Öffentliche Arbeitgeber stünden besser da, dort seien 2021 nur 4,1 Prozent der Pflichtarbeitsplätze unbesetzt geblieben. Die Gewerkschaft schlägt die Wiedereinführung der Sechs-Prozent Beschäftigungspflicht vor. Arbeitgeber, die mindestens 20 Mitarbeiter haben, müssen derzeit fünf Prozent der Stellen mit schwerbehinderten Menschen besetzen.

Erwin Krammig, der bei der Gewerkschaft Lotse für Menschen mit Handicap ist, hofft, dass die Erhöhung der Abgabe, die Unternehmen leisten müssen, wenn sie die Quote nicht erfüllen,
einen Effekt nach sich zieht. Sie steigt zum 1. Januar 2024 und beträgt dann im Höchstfall, wenn keine schwerbehinderte Person in einem Unternehmen mit mehr als 20 Stellen beschäftigt wird, 720 Euro im Monat pro nicht erfüllter Pflichtstelle. Arbeitgeber sparten aber nicht nur diese Abgabe, wenn sie die Stellen besetzten, so Krammig: „Eine zusätzliche Ausbildung oder Umschulung wird sogar von der Agentur für Arbeit oder dem Integrationsamt gefördert.“ Zudem können Stellen für Menschen mit Behinderung mit bis zu 75 Prozent des Gehalts gefördert werden.

Beschäftigungszahl nimmt konstant zu

Das gilt insbesondere für alle, die zuvor in einer Werkstätte gearbeitet haben. Dies bei Arbeitgebern bekannter zu machen und um die Einstellung von Menschen mit Behinderung zu werben, haben sich die Werkstätten zum Ziel gesetzt. Laut Christian Dreiss aus dem Vorstand der Landesarbeitsgemeinschaft der Werkstätten tun sie das mit Erfolg, sowohl, was Praktikumsplätze anbelangt, als auch bei der anschließenden Vermittlung auf BIB-Stellen. Allein dabei habe sich die Zahl von 2021 mit 1474 auf 1725 erhöht. Das macht mehr als zehn Prozent der insgesamt 16.000 in hessischen Werkstätten Beschäftigten aus. 500 ehemalige Angestellte wurden in den vergangenen zehn Jahren sogar in Betriebe übernommen. Als schwerbehindert gelten Menschen mit ganz unterschiedlichen Beeinträchtigungen körperlicher, geistiger und seelischer Art. Längst nicht jeder braucht die Betreuung in einer Werkstätte. Die Beschäftigung Schwerbehinderter in Hessen hat nach Angaben der Regionaldirektion der Bundesagentur für Arbeit bis 2019 konstant zugenommen. Seither geht sie zurück. Im Oktober 2023 waren demnach 11.000 schwerbehinderte Menschen in Hessen ohne Arbeit. Das waren rund 560 mehr als im Oktober 2022. Ihr Anteil an der Gesamtzahl aller arbeitslos gemeldeter Menschen in Hessen lag im Oktober bei sechs Prozent. Mit 6618 Betroffenen erhält der Großteil von ihnen Bürgergeld.

„Diese Zahlen wiegen umso schwerer, weil Menschen mit Behinderungen statistisch gesehen deutlich länger arbeitslos bleiben, bevor sie wieder berufstätig werden“, sagte die Landesbehindertenbeauftragte Rika Esser. Obwohl, wie Joav Auerbach von der Regionaldirektion der Arbeitsagenturen sagt, Menschen mit Behinderungen wertvoll seien für die Arbeits- und Fachkräftesicherung, existierten bei Unternehmen wie auch bei Betroffenen häufig Unsicherheiten. Das gelte insbesondere für Personen, die für eine Ausbildung oder die sofortige Aufnahme einer Arbeit wegen der Art oder Schwere ihrer Behinderung noch nicht in Betracht kommen. „In einem gelebten inklusiven Arbeitsmarkt muss es jedoch neben den Werkstätten für behinderte Menschen selbstbestimmte, betriebliche Alternativen geben“, so Auerbach.

Wichtig ist, wie Dreiss hervorhebt, dass Arbeitgeber mehr auf die Stärken als auf die Schwächen der Kandidaten schauen. Keko-Agenturchef Menge formuliert es so: „Man kann Stellen nicht eins zu eins besetzen, da muss man umdenken.“

Arbeitgeberverbände wünschen Abschaffung der Ausgleichsabgaben

Bei den Werkstätten weiß man, dass es nicht möglich ist, für das Gros der Betroffenen Stellen im regulären Arbeitsmarkt zu finden. Menschen, die von Panikattacken oder schweren Depressionen geplagt seien, könnten nur im geschützten Rahmen arbeiten. Doch auch die könne man unterstützen, indem man etwa Dienstleistungen bei ihnen in Auftrag gebe, hebt Menge hervor – so lasse sich sogar die Ausgleichsabgabe reduzieren.

Die würden Arbeitgeberverbände am liebsten abgeschafft sehen. Nach deren Ansicht wäre es nicht möglich, alle Pflichtplätze zu besetzen. 2021 seien fast 120.000 Schwerbehinderte in Hessen in Beschäftigung gewesen, davon rund 80.000 bei privaten Arbeitgebern. Mit 4,6 Prozent habe kein anderes Bundesland eine höhere Schwerbehindertenquote bei den privaten Arbeitgebern als Hessen, so heißt es vom Unternehmerverband VhU. Trotzdem hätten hessische Arbeitgeber allein im Jahr 2020 mehr als 57 Millionen Euro Ausgleichsabgabe für rund 22.000 nicht besetzte Pflichtarbeitsplätze bezahlt, obwohl es zu der Zeit nur 12.000 schwerbehinderte Arbeitslose in Hessen gab. Arbeitgeber müssten vielfach Ausgleichsabgaben zahlen, obwohl sie keine Chance hätten, für jeden Pflichtarbeitsplatz einen schwerbehinderten Bewerber zu finden.

„Diese Menschen haben ein Recht auf Teilhabe am Arbeitsleben, wir können sie ermöglichen“, sagt Carsten Menge von der Frankfurter Werbeagentur ’Keko’. (Bild: Aaron Leithäuser)

Manche Unternehmen sind aber offenbar erfolgreich darin, Schwerbehinderte zu gewinnen. Bei der KfW-Bankengruppe sind es 6,1 Prozent der Beschäftigten. „Wir veröffentlichen Anzeigen auf gezielten Stellenbörsen für die Zielgruppe und schreiben in jeder Anzeige, dass wir Menschen mit Behinderung bevorzugt einstellen“, berichtet Robert Szwedo, Bereichsleiter Human Resources. Zudem versuche das Unternehmen insgesamt barrierefrei an allen Arbeitsplätzen zu sein. Je nach Bedarf würden zudem etwa für seheingeschränkte Mitarbeiter spezielle Tastaturen oder Diktiersoftware zur Verfügung gestellt. Dafür nutze die Bank auch Fördermittel des Integrationsamtes. Die Diversität, sagt Szwedo, führe zu einem größeren Teamzusammenhalt und dazu, „dass untereinander mehr Rücksicht genommen wird und dass durch den Perspektivwechsel Teams innovativer werden, kreativer arbeiten und so oft eine größere Problemlösefähigkeit herbeiführen“.

All das würde der Keko-Chef Menge sofort unterschreiben: „Patrick tut uns richtig gut.“ Und die neue Aufgabe ihm. Menge will weitere inklusive Stellen schaffen. Er sieht das als gesellschaftliche, nicht als gesetzliche Pflicht an. „Diese Menschen haben ein Recht auf Teilhabe am Arbeitsleben, wir können sie ermöglichen.“

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